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BLOG CREATIVE PROTEST ON TOUR Das Wunder von Saporischschja

05.06.2016 | cb — Keine Kommentare
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Auf Einladung der Gay Alliance Ukraine sind sie unterwegs, um Politik zu machen, Politik mit einfachen, kreativen Mitteln, die nicht teuer sind und Spaß machen. Naomi Lawrence, Künstlerin aus München, hat das Konzept dafür entwickelt, für die Creative Protest Workshops, die erstmals auf Tour gehen durch die Queer Homes der Ukraine. Die Queer Homes – das sind Kultur- und Kommunikationszentren für LGBTIQ, die die Gay Alliance Ukraine im ganzen Land betreibt. Begleitet wird Naomi von Ania Shapiro, einer amerikanischen Menschenrechtsaktivistin aus Berlin, die wie Naomi Lawrence Teil von Munich Kyiv Queer ist. Mila und Vera, zwei ukrainische Filmemacherinnen, zeichnen das Ganze mit ihrer Kamera auf. Am Ende soll ein Dokumentarfilm entstehen. Ein deutsch-ukrainisches Gemeinschaftsprojekt, eine Herzensangelegenheit für alle.

15 Stunden im Zug sind nie angenehm, aber eigentlich war’s nicht so schlimm bis auf die Fenster, die sich nicht öffnen ließen, das war echt stickig. Die Strecke ist gar nicht so lang und früher hat es auch nicht so lange gedauert. Aber Saporischschja ist sehr nah an der roten Zone, also dem Teil der Ukraine, in dem es Kampfhandlungen gibt. Deshalb wird das Gebiet weiträumig umfahren und das dauert.

Wir waren vorgewarnt: Saporischschja, eine Stadt, in der es außer Industrieanlagen eigentlich nicht viel gibt. Sauren Regen vielleicht. Ha, ha!

Als wir Montag früh um 5.40 Uhr am Bahnhof eintreffen, bin ich verwundert. Wo sind die Industrieanlagen? Nun gut, die kommen schon noch. Wir fahren erstmal im Taxi ins Hotel. Ich bin erstaunt, wie weit diese Stadt ist, dabei hat sie gar nicht so viele Einwohner, offiziell 700 000 mit den Flüchtlingen aus dem Osten aber deutlich mehr. Um 11.00 Uhr kommen Rostik und Sascha und machen eine kleine Stadtführung mit uns. Sascha war 2015 für die Ehrenamtsfortbildung von Munich Kyiv Queer und Gay Alliance Ukraine in München. Es ist schön, ihn wiederzusehen.

Diese Stadt ist so anders als Odessa oder Kyiw, sie ist so weitläufig, aber irgendwie auch zusammenhangslos. Viel grün aber, auch viel grau. Wir überqueren die Hauptstraße Soborny, es ist der längste Boulevard Europas – zwölf Kilometer lang. Ich bin beeindruckt, aber weit und breit keine Industrieanlagen…

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Auf dem Rückweg fängt es plötzlich an, sintflutartig zu regnen. Wir flüchten unter das Dach einer Bushaltestelle. Ich erkundige mich nach dem sauren Regen in der Stadt. Werden mir wirklich die Haare ausfallen, wenn sie nass werden?  Rostik lacht. Nein, Saporischschja gehört zwar zu den Städten mit der höchsten Umweltbelastung in der Ukraine, aber der Regen ist nicht das Problem, eher das Grundwasser.

Mein Workshop beginnt um 18.00 Uhr bei Gender Z. Die Organisation kooperiert mit der Gay Alliance Ukraine, auch Gender Z hat so ein Queer Home wie die Gay Alliance Ukraine, ein Kommunikations- und Kulturzentrum für LGBT . Ein offener Raum und offene Angebote und viele Möglichkeiten für die Gäste, selber aktiv zu werden. Das Angebot heute ist mein Creative Protest Workshop. Viele Leute kommen, vor allem Teenager. Rostik und Sascha sind mit ihren etwa 30 Jahren schon Vaterfiguren. Ein Mädchen ist mit ihrer Mutter gekommen, die Mutter unterstützt sie.

Ich bin begeistert, alles ist da: Papier, Farben, Pinsel, ein Beamer und über 20 Teilnehmer*innen. Weil alle pünktlich gekommen sind, beginnen wir auch pünktlich. Rostik übersetzt für mich, anders als in Odessa, sprechen hier nur wenige Englisch.

Es ist heiß und im Nu auch stickig wegen der vielen Menschen im Raum. Trotzdem hören alle aufmerksam zu und machen mit. Sie malen, drücken sich aus, stellen und beantworten Fragen, entwickeln Ideen für Flashmobs. Am Ende des Workshops gegen 22.00 Uhr sind es Rostik und ich die nicht mehr können. Unsere Köpfe qualmen, Sprechen und Denken fallen schwer. Aber das macht nichts, denn der Plan für den nächsten Tag steht schon: Um 9.00 Uhr zeigen Sascha und Rostik uns Chortyzia, die größte Insel im Fluß Dnjopre.

Es ist zum Teil ein Naturschutzreservat und zum Teil ein wunderschönes Naherholungsgebiet mit einem historischen Tartaren Dorf, welches vor Jahren für einen Film gebaut wurde und nun eine Touristenattraktion ist. Die riesige, steinerne Statue eines kräftigen Tartaren bringt uns allerdings auf andere Gedanken.

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Es ist heiß und im Nu auch stickig wegen der vielen Menschen im Raum. Trotzdem hören alle aufmerksam zu und machen mit. Sie malen, drücken sich aus, stellen und beantworten Fragen, entwickeln Ideen für Flashmobs. Am Ende des Workshops gegen 22.00 Uhr sind es Rostik und ich die nicht mehr können. Unsere Köpfe qualmen, Sprechen und Denken fallen schwer. Aber das macht nichts, denn der Plan für den nächsten Tag steht schon: Um 9.00 Uhr zeigen Sascha und Rostik uns Chortyzia, die größte Insel im Fluß Dnjopre.

 

Es ist zum Teil ein Naturschutzreservat und zum Teil ein wunderschönes Naherholungsgebiet mit einem historischen Tartaren Dorf, welches vor Jahren für einen Film gebaut wurde und nun eine Touristenattraktion ist. Die riesige, steinerne Statue eines kräftigen Tartaren bringt uns allerdings auf andere Gedanken.

 

 

 

Um 11.00 Uhr sind wir dann wieder bei Gender Z, denn um 12.00 Uhr kommen die ersten Leute, um die Flashmobs vorzubereiten. Andrew, ein Teilnehmer schickt mir noch eine neue Idee für einen Flashmob über Facebook. Sie beinhaltet viel Aktion und Öffentlichkeit – ich freue mich, über die Idee und die Begeisterung.

 

Um 12.00 beginnen wir mit der Vorbereitung der Flashmobs. Saporischschja hat in einem Park einen riesigen Regenbogen aus Kunststoff. Das ist natürlich eine Steilvorlage für uns. Wir werden einen entsprechend riesigen Hashtag malen: #ПідтримуюКиївПрайд2016 (#WirunterstützenKyivPride2016) Damit werden wir uns in den Regenbogen stellen. Das Transparent wird fünf Meter breit, das ist eine Herausforderung. Aber mit dem Beamer ist es nicht so schwer. Innerhalb einer Stunde haben wir es geschafft.

 

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Parallel wird ein zweiter Flashmob vorbereitet. Ein weiteres Objekt in Saporischschja soll unser Botschafter sein. Ein großes Herz eingerahmt von den Buchstaben I und ZP. „I love Zaporizhia“, eine Werbeaktion für die Stadt. Da fehlt eigentlich nur noch unser Hashtag mit dem Gruß an Kyiw drauf. Als wir wie geplant um 15.00 Uhr losgehen, sind wir wieder über 20 Leute. Niemand scheint ängstlich zu sein. Liegt das an dem Alter?

Der Regenbogen steht auf einer Anhöhe von der aus man den Dnjopre überblicken kann, den asphaltierten Platz darum herum, haben wir mehr oder weniger für uns. Hier haben wir kein Publikum. Einerseits ist das gut, denn das heißt, es kann auch keine Konfrontationen geben. Andererseits gibt es auch keine Kommunikation mit den Leuten. In diesem Fall ist das aber gewollt, denn die Aktion ist nicht interaktiv, sondern symbolisch als Unterstützung für den Pride gedacht. Es gab auch Ideen für interaktive Flashmobs, aber die müssen sorgfältig vorbereitet werden. Die Zeit hatten wir leider nicht. Die ganze Aktion dauert nicht lange, aber sie ist optisch sehr eindrucksvoll. Es ist ein Zeichnung der Unterstützung und Hoffnung auf einen friedlichen Pride.

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Danach ziehen wir zurück in die Stadtmitte. Wobei Stadtmitte das falsche Bild vermittelt, denn das Stadtzentrum erstreckt sich über fünf Kilometer entlang des Soborny-Boulevards. Wir gehen zu der Heart Clock einer großen Standuhr, vor der das „I Love ZP“-Herz steht. Hier ist deutlich mehr los, deshalb wird der Flashmob auch schneller durchgeführt. Wieder entsteht ein Bild des Optimismus und der Zuversicht. Man sieht dass die Teilnehmer/innen vor allem Spaß und nicht Angst haben.

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Was ist hier los in Saporischschja? Keine Industrieanlagen, keine Angst. Diese kleine und junge Community ist sehr eng und vertraut miteinander, ja, tatsächlich wie eine große Familie. Und der Grund für dieses Miteinander sind zweifellos Rostik und Sascha. Diese positive Energie geht von ihnen aus. Von außen betrachtet ist es offensichtlich, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie selbst es wissen. Sie machen den Unterschied.

Eigentlich sind unsere Flashmobs nun zu Ende. Alle unterschreiben auf unserem Regenbogenschirm, der inzwischen eine Art Wanderpokal ist. Seine letzte Station wird Kyiw sein. Und wir? Niemand scheint so recht nach Hause gehen zu wollen, deshalb schlage ich vor, noch einen Abstecher zur Statue von dem Komponisten Michailo Glinka zu machen. Ihn hatte ich schon am Vortag gesehen und bemerkt, dass seine rechte Hand einen unsichtbaren Regenschirm zu halten scheint.
Alle wollen mit, inzwischen wundert mich nichts mehr.

Unterwegs wird allerdings klar, dass uns ein entscheidendes Utensil fehlt: der Verlängerungsstab. Zwar finde ich unterwegs noch einen einen Meter langen Stecken, aber als wir vor der Statue stehen, ist offensichtlich, dass der nicht ausreicht. Was tun?  Wir diskutieren, hochklettern? Zu gefährlich, das ist illegal und die Polizeistation ist gleich um die Ecke. Dann nimmt Andrew den jungen Alex auf seine Schultern. Das ist eine ziemlich wacklige Geschichte und bringt den Schirm nicht deutlich höher. Dann versuchen Rostik und Sergeij mit einem längeren Teilnehmer Räuberleiter zu machen. Aber der kneift. Also melde ich mich, denn ich bin eine der längsten in der Gruppe und habe keine Höhenangst. Es klappt, ich stehe auf ihren Händen und halte den Schirm nach oben. Ich schaffe es zwar nicht, ihn in seiner Hand zu platzieren, aber immerhin guckt er über seine Schulter. Optisch ist das Ergebnis zwar nicht so überzeugend, aber gruppendynamisch war es der Hit: Problem – Lösung – Teamwork und alles, aufgrund der Nähe zur Polizeistation mit viel Adrenalin.

Aber wieder geht alles gut, keine Polizei, keine Aggression, obwohl viele Leute da sind. Wir erweitern unsere eigenen Grenzen und erkunden die Grenzen der Gesellschaft. Sichtbarkeit und Kommunikation. Die LGBTIQ-Community braucht Sichtbarkeit, damit die Gesellschaft überhaupt merkt, dass es sie gibt. Und dann ist es wichtig, miteinander zu kommunizieren, damit Einstellungen sich ändern können. Das ist ein Prozess, der auf individueller und auf kollektiver Ebene stattfindet. Am nächsten Tag fahren wir weiter nach Kryvvj Rih, wieder eine Industriestadt. Mal sehen, ob es da Industrieanlagen gibt. [Naomi Lawrence]

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